Über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP ist viel geschrieben, diskutiert und getalkt worden. Auch wurden die Wissenschaften bemüht, um Prognosen über Gefahren und Chancen gegeneinander abzuwägen. Wenn Gefahren am Horizont der empörten Gesellschaft heraufziehen, reagiert die Unterhaltungsindustrie und sucht nach Marketingstrategien, um aus der Empörung ein Geschäft zu machen. Doch es geht um mehr als nur um klingende Kassen für den Buchhandel und die mediale Unterhaltungsindustrie. Es geht um die Verabreichung von wirksamen Beruhigungspillen für die empörte Gesellschaft. Es geht um De-Eskalation, darum schlimmeres zu verhindern, darum die Energien der Wutbürger so zu kanalisieren, dass sie letztendlich unbemerkt verpuffen, kurz: Es geht um neoliberales Krisenmanagement in Zeitalter empörter „Wutbürger“. Die Empörten müssen geleitet und geführt werden, und zwar so, dass der Protestzug der Empörten auf einem Abstellgleis landet. Die neoliberale Rezeptur des Protestmanagements ist einfach: Zunächst wird eine Figur des öffentlichen Lebens auserwählt, die aufgrund ihrer Reputation innerhalb des Bürgerprotests akzeptiert und anerkannt ist. Dann wird ein Buch geschrieben, in dem in analytischer Professionalität das Bekannte zusammengetragen wird. Angereichert mit analytischen Details muss vor allem dem Handlungs- und Aktionsbedürfnis der aufgebrachten Leser entsprochen werden. Und genau hier ist die Gratwanderung, denn das Handlungs- und Aktionsbedürfnis darf nicht aus dem Ruder laufen, sondern muss in systemkonformen Bahnen kanalisiert werden. Wenn all das gewährleistet ist, schlägt die Stunde des Marketing: Medienauftritte, Radiobesprechungen und Lesungen werden organisiert. Exakt diese Rezeptur wurde im Fall des Buchs „Die Freihandelslüge“ von Thilo Bode zur Anwendung gebracht. Als ehemaliger Geschäftsführer von Greenpeace und Gründer von Foodwatch e.V. genießt er im links-alternativen Milieu nicht nur Ansehen, sondern verfügt auch über das notwendige Wissen, wie Proteste „zu managen“ sind. Für den Global-Player, den Bertelsmann-Konzern, offensichtlich genau die richtigen Voraussetzungen, um an Thilo Bode die Idee einer weiteren Publikation zum Thema TTIP heranzutragen. Es ist dem Kabarettisten Frank-Markus Barwasser in seiner Rolle als Erwin Pelzig zu danken, dass er in seiner Talkshow am 14.7.2015 Thilo Bode mit der Frage konfrontierte, warum sein Buch ausgerechnet von der zum Bertelsmann-Konzern gehörenden Deutschen Verlags-Anstalt verlegt worden sei. Bode zeigte sich überraschte und äußerte, dass ihm das nicht bekannt sei. Aus „Pelzigs“ Nachfrage, ob er das Buch mit diesem Wissen hätte woanders verlegen lassen, verneinte Bode und ergänzte begründend, weil der Verlag diese Idee hatte bzw. auf ihn zugekommen sei. Ob deshalb die Handlungsempfehlungen für das empörte Bildungsbürgertum in dem Buch so dürftig ausfallen? Thilo Bode will, dass die Bürger sich mit einem Brief an die Abgeordneten ihres Wahlkreises richten, um so ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Eine Brief-Aktion soll weniger TTIP, als den Protest (hin)richten. Dass gerade der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace jetzt die Hoffnung auf eine Brief-Aktion richtet, ist entlarvend. Zumal Sigmar Gabriel als Parteivorsitzender der SPD durch einen offenen Brief an die Basis gezeigt hat, wie Proteste beispielsweise gegen die geheimen Schiedsgerichtsverfahren mit fadenscheinigen Absichtserklärungen abgebügelt werden. Auch erscheint die beim Kölner Treff gestellt Frage von Bode (O-Ton Bode 0:42 Min), warum sich die Abgeordneten selbst entmachten, naiv und volksverdummend. Unsere Abgeordneten sind dankbar, wenn sie sich auf Sachzwänge, wie sie durch TTIP, TISA und andere Freihandelsabkommen geschaffen werden, entschuldigend berufen können – nach dem Motto: Sie haben ja recht, aber mir sind die Hände gebunden, weil das Freihandelsabkommen keinen Gestaltungsspielraum zulässt. Viele mögen einwenden, dass doch jede Aufklärung über TTIP zu begrüßen ist. Wer so argumentiert, verkennt das Kalkül neoliberalen Protestmanagements. Im Zentrum dieses Protestmanagements geht es weniger um die analytische Kompetenz von Problemen, sondern es geht vor allem um Problemlösungskompetenz: Wer hat nach der Diagnose auch die richtige Therapie? Unter psychologischen Gesichtspunkten ist es unstrittig, dass demjenigen, der eine Diagnose stellt, auch therapeutische Fähigkeiten unterstellt werden. Die Analyse ist quasi das trojanische Pferd, mit dem dann auch „therapeutische“ Vorschläge transportiert werden. Diese erzielen dann aber weder die versprochene Wirkung, noch bewirken sie einen Heilungseffekt.
Wer glaubt, Geld ausgeben zu müssen, um sich über TTIP umfassend zu informieren, dem seien preiswertere Publikationen wie die von Christian Felber empfohlen. Für nur 3,99 € kann das im Carl Hanser Verlag (!) erschiene Buch „Freihandelsabkommen TTIP. Alle Macht den Konzernen?“ bezogen werden. Und wer sich einen kostenfreien Einblick in die argumentative Schärfe und Brillanz von Felber verschaffen will, dem sei der Schlagabtausch zwischen Christian Felber und Prof. Andreas Falke in der Beilage „aus politik und zeitgeschichte“ empfohlen. Den meisten Publikationen wie Kampagnen zum Thema TTIP liegt bereits in ihrer analytisch-skandalierenden Herangehensweise eine gravierende Schwäche zugrunde: Sie richten den Blick engstirnig auf die TTIP-Verhandlungen, lassen aber das Dienstleistungsabkommen TISA (Trade in Services Agreement) außen vor, obwohl unter direkt-demokratischen Gesichtspunkten das TISA-Abkommen in seinen Folgen für die europäischen Antiprivatisierungs- und Rekommunalisierungsbewegungen als wesentlich gefährlicher einzustufen ist, als die TTIP-Verhandlungen! Denn wenn man den Ausführungen des Genfer taz-Korrespondenten Andreas Zumach folgt, dann
„sollen Regierungen oder Verwaltungen künftig das Recht verlieren, Dienstleistungen wieder in die öffentliche Hand zu überführen. Nationale Bestimmungen zum Schutz von Umwelt, Verbrauchern oder Beschäftigten sollen ungültig werden, wenn sie den „freien Markt“ mit Dienstleistungen behindern.“ Und auch Volksbegehren und Volksentscheidungen zur Rekommunalisierung sollen nach Zumach der Riegel vorgeschoben werden: „Das seinerzeit bereits von Globalisierungskritikern bekämpfte Gats enthält noch Ausnahme- und Schutzklauseln für Dienstleitungsbereiche, die besonders sensibel oder von hohem öffentlichen Interesse sind. Diese Klauseln sollen in einem neuen Abkommen ebenso wegfallen wie die im Gats enthaltene Möglichkeit, gescheiterte oder zu kostspielige Privatisierungen wieder zu korrigieren. Dann wären die zuletzt von vielen Städten in Deutschland getätigten Rückübernahmen privatisierter Energie- und Wasserunternehmen in kommunale Trägerschaft unmöglich, genauso wenig wie die Renationalisierung der in den 80er Jahren mit katastrophalen Folgen privatisierten britischen Eisenbahnen.“ (s. taz v. 27.4.2014: „Deregulierung von Dienstleistungen – Geheimverhandlungen in Genf“ von Andreas Zumach)
Mögen die analytischen Schwächen der Empörungsagenturen auch auf die geheime Top-Secret-Politik der elitären Verhandlungsführer zurückzuführen sein, so wiegen die defizitären Lösungsansätze bzw. Vorschläge der protestführenden Organisationen in ihrer negierenden Naivität umso schwerer. Wenn beispielsweise die Nichtregierungsorganisation „Campact – Demokratie in Aktion“ als eine der führenden Campaigner-Organisationen glaubt, mit Unterschriftensammlungen für einen Stopp der Freihandelsverhandlungen dieses Ziel erreichen zu können, dann ist diese naive Schmalspur-Ausrichtung in der Zielvorgabe (Stopp bzw. Abbruch der Verhandlungen) in mehrfacher Hinsicht kritisch zu hinterfragen: Schon aufgrund der Eigendynamik transnationaler Verhandlungen, dem erheblichen Kosten-, Organisations- und Zeitaufwand wird es zu keinem Verhandlungsabbruch kommen. Einen Gesichtsverlust werden die Verhandlungsführer mit all ihren Delegationen von Unterverhandlungsführern und externen Experten nicht zulassen. Eher werden fadenscheinige Kompromisse geschlossen werden, die dann wiederum zu Auslegungsdifferenzen führen, die wiederum gerichtlich geklärt werden. Trägt man diesem Einwand Rechnung, stellt sich die Frage nach Alternativen: Wäre es nicht sinnvoller, dem Zeitgeist verstärkter politischer Mitbestimmung zu entsprechen und Unterschriftenaktionen unter einer erweiterten und gewiss ansprechenderen Zielvorgaben durchzuführen, indem die Ergebnisse aller Freihandelsabkommen jeweils der europäischen Bevölkerung in Form eines Referendums zur Abstimmung vorgelegt werden müssen? Diese Forderung in Verbindung mit einer entsprechenden Verankerung eines Referendumvorbehalts im Fall von Freihandelsverträgen in der europäischen Verfassung würde die Verhandlungsführer massiv unter Druck setzen, weil in diesem Fall die finale Prüfung der Eignung des ausgehandelten Vertragstextes demokratisch durch die Bevölkerung erfolgen würde. Dem Einwand, dass ein Vertrag aufgrund seiner Komplexität die Bürger überfordern würde, kann nur lakonisch entgegengehalten werden, dass auch viele Abgeordnete schon aufgrund ihrer zahlreichen Tätigkeiten kaum die erforderliche Zeit aufbringen können, die Verträge mit der gebotenen Gründlichkeit zu studieren. Wichtiger ist jedoch der Hinweis, dass es sich um Verträge handelt, die weit über die Dauer einer Wahlperiode hinaus ihre Wirkungen entfalten, während die Abgeordneten lediglich für eine Wahlperiode ein demokratisch-repräsentatives Mandat vorweisen können. Auch aus dieser demokratietheoretischen Perspektive erscheint die Praxis des parlamentarischen Durchwinkens und Abnickens durch überforderte Abgeordnete wenig geeignet. Bei zentralen, systemrelevanten Entscheidungen erscheint die Einführung von direktdemokratischen Referenden zwingend und überfällig! Nur zur Erinnerung: Auch im Rahmen der Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe gab es einen geheimen Teilprivatsierungsvertrag zwischen dem Senat und den Konzernen RWE und Veolia mit unbefristeten Gewinngarantien. Auch hier bedurfte es eines vom Autor geschriebenen Volksgesetzes zur Offenlegung der geheimen PPP-Verträge, um die Ursachen für die exorbitant gestiegenen Wasserpreise aufzudecken. Als sich anschließend von Seiten der Zivilgesellschaft ein 10-köpfiger „Arbeitskreis unabhängiger Juristen“ (AKJ) gegründet hat, um die durch den Volksentscheid offen gelegten Teilprivatisierungsverträge einer verfassungs- und europarechtlichen Prüfung zu unterziehen, fühlte sich kein Abgeordneter veranlasst, gemeinsam und sozialpartnerschaftlich (in diesem Fall besser: zivilpartnerschaftlich) mit dem AKJ die unvoreingenommene Prüfung der Verträge durchzuführen!
Festzuhalten ist, dass viele Nepper, Schlepper, Bauernfänger und Geschäftemacher nur darauf warten, ihre Netze auszuwerfen, um im Empörungsbecken kritische Bürger einzufangen und deren Aufmerksamkeit mit äußerst fragwürdigen Problemlösungsvorschlägen gleichzuschalten. Wer bei einem Verlag des Bertelsmann-Konzern publizieren lässt, riskiert seine Glaubwürdigkeit, ist außer analytischer Rhetorik nichts weiter zu erwarten. Auch bei allem Verständnis für blindwütigen Aktionismus, so sollte bei der modisch-bequemen Unterstützung von Unterschriften-Kampagnen auch hier nicht die kritische Prüfung der Zielsetzung auf ihre Sinnhaftigkeit aus den Augen verloren werden. Denken Sie daran, die Empörungspublizistik wie zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure haben Ihre Kritikfähigkeit im Visier. Darum sollte jeder nicht nur die analytischen Kompetenzen der Wortführer überprüfen, sondern vor allem die Vorschläge auf ihre Sprengkraft durchleuchten: Sind diese geeignet, die überfälligen Systemtransformationen Richtung Demokratisierung, Bürgerbeteiligung und Transparenz endlich durchzusetzen oder wird wie bisher nur ein wenig herumgedoktert und auch weiterhin darauf geachtet, dass nichts aus dem Ruder etablierter Strukturen läuft.
Thomas Rudek
Sprecher und Verfasser des ersten erfolgreichen Volksentscheids in Berlin
Gründer & Sprecher der IG für Demokratie, Bürgerbeteiligung und Transparenz (IG DeBüT)
zum Thema: „Überleben in den Krisen – Anmerkungen zum neoliberalen Krisenmanagement“ von Thomas Rudek, in: Jahrbuch für psychohistorische Forschung, 2010
Fischen in der Nebelbank – Wie sich der Berliner Politikbetrieb zu TTIP positioniert
(Deutschlandfunk, Dossier, 19.06.2015)
Deal unter Forschern – Wie TTIP mit Fakten hantiert
(Deutschlandfunk, Wissenschaft im Brennpunkt, 02.08.2015)
Freihandelsabkommen – Was die Automobilindustrie von TTIP erwartet
(Deutschlandradio Kultur, Weltzeit, 23.07.2015)
10. TTIP-Verhandlungsrunde – Neue Vorschläge zu umstrittenem Thema Dienstleistungen
(Deutschlandfunk, Aktuell, 17.07.2015)
Freihandelsabkommen von USA und EU – TTIP eröffnet Wettlauf nach unten
(Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen, 14.07.2015)
Freihandelsabkommen – Strippenzieher hinter TTIP
(Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen, 14.07.2015)
Freihandelsabkommen – „TTIP verbessert Marktchancen für deutsche Maschinenbauer“
(Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen, 14.07.2015)
Umstrittenes Freihandelsabkommen – EU-Parlament stimmt für TTIP-Resolution
(Deutschlandfunk, Aktuell, 08.07.2015)
Verhandlung über TTIP-Resolution – Schutzbemühungen für die Kultur
(Deutschlandfunk, Kultur heute, 07.07.2015)