Jose Saramago: Von der „Stadt der Blinden“ zur „Stadt der Sehenden“

Von der „Stadt der Blinden“ zur „Stadt der Sehenden“
oder: VOM SEHSINN ZUM SCHARFSINN
ZUR ERINNERUNG AN JOSE SARAMAGO

In der Nacht von Sonntag (14. August) auf Montag, wird zu nachtschlafender Zeit um 0.00 Uhr auf ARD die sehenswerte Literaturverfilmung „Die Stadt der Blinden“ von Jose Saramago durch den Regisseur Fernando Meirelles (City of God) ausgestrahlt. Anlass für einen Rückblick auf zwei Romane dieses bedeutenden Schriftstellers.
Mit dem Tod des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers und bekennenden Sozialisten Jose Saramago ist die Welt der politischen Literatur ärmer geworden. Als Saramago seinen Roman „Die Stadt der Blinden“ präsentierte, wurde die Leserschaft in mehrfacher Hinsicht herausgefordert: Denn die Konfrontation mit den dunkelsten Seiten der menschlichen Existenz bringt stets das zu tage, was keiner gerne sieht, was nur allzu gerne vergessen, verdrängt wird.

Die Geschichte war einfach angelegt: In einer Stadt werden immer mehr Menschen von einer weißen Blindheit befallen. Die Politik reagiert – wie nicht anders zu erwarten – hilflos mit den übrigen Repressalien: Überwachen, abtransportieren, kasernieren, wegsperren.
Die weiße Blindheit macht auch vor einem Augenarzt nicht halt und als die Militärpolizei kommt, um den Erblindeteten abzuholen, erklärt seine besorgte Ehefrau den Beamten, dass auch sie plötzlich erblindet sei. Erwartungsgemäß werden beide gemeinsam in Verwahrung genommen. In einer ehemaligen Anstalt für geistig Behinderte werden die Betroffenen sich selbst überlassen. Schon bald bilden sich unter den Blinden zwei Gruppen heraus: Die eine, bemüht, die zivilisatorischen Regeln des Respekts und der Demokratie zu wahren, steht eine andere Gruppe gegenüber, die sich schon schnell den Zugang zu den täglichen Lieferungen von Nahrungsmitteln sichert und die andere Gruppe brutal erpresst. Saramago erspart in diesen Passagen dem Leser nichts, schildert erbarmungslos die Bestialität des Überlebenskampfes und überschreitet nicht selten die Grenzen des Zumutbaren. Als der Gruppe des Augenarztes unter der mitfühlenden Leitung der sehenden Ehefrau die Flucht aus der Anstalt gelingt, finden die Flüchtlinge eine weitgehend zerstörte, geplünderte Stadt vor. Die Gruppe findet Zuflucht in der Wohnung des Ehepaares, sie richten sich so gut es geht ein, nehmen einander an. Und auf einmal, inmitten dieses Prozesses der Menschwerdung, verschwindet die weiße Blindheit so plötzlich wie sie gekommen war. Doch die Menschen dieser Gruppe kehren nicht wieder zurück in den gewohnten Trott. Diese elementare Erfahrung hat sie verändert, genauer ihre Wahrnehmungssinne geöffnet: Statt sich wie früher mit der alltäglichen Routine zu taxieren, statt zu gaffen und zu glotzen, haben die Protagonisten des Romans wieder gelernt, sich zu betrachten, mit Respekt, Achtung und vor allem mit Verständnis für einander und der Erkenntnis, dass es nur einen Weg geben kann – einen gemeinsamen.

Saramago scheint in seinem Fortsetzungsroman „Die Stadt der Sehenden“ an diesen versöhnlich-zuversichtlichen Ausklang anknüpfen zu wollen. Die Menschen haben sich nicht nur emanzipiert, haben nicht nur die Scharlatane des politischen Schmierentheaters durchschaut, sie haben unterdessen auch verstanden, aus ihrer Erkenntnis die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Die Handlung des Romans beginnt an einem verregneten Tag. Wie das Schicksal es will, finden ausgerechnet an diesem Tag Kommunalwahlen statt. Die Wahlen erweisen sich in der Hauptstadt des Landes als politisches Fiasko: Eine überwältigende Mehrheit der Bürger erteilen ihren Repräsentanten einen Denkzettel in Form eines weißen Wahlzettels. Die Vertreter der Politik – bestehend aus drei Parteien, der Partei der Rechten, der Mitte und der Linken – reagieren auf diese „weiße Pest“ wie nicht anders zu erwarten und lassen die Wahl – wegen des schlechten Wetters – wiederholen.  Doch die Pest weitet sich aus: 83 Prozent der Wahlberechtigten werfen in die Urnen der Hauptstadt einen weißen Zettel. Auf diesen brutalen „Schlag gegen die demokratische Normalität unseres Lebens und Gemeinwesens“ reagiert die Führung mit der Verhängung des Ausnahmezustandes. Agenten werden rekrutiert, auf Linie gebracht und auf die Bevölkerung angesetzt. Eine flächendeckende Bespitzelung beginnt und jeder Hauptstadtbewohner wird zwangsverpflichtet, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen. Doch alles hilft nicht: Die Hauptstädter reagieren mit einer großen Demonstration, woraufhin die Regierung beschließt, die „Aufständischen“ sich selbst zu überlassen und sich aus der Hauptstadt taktisch zurückzuziehen. Die Stadt wird eingekesselt, der Belagerungszustand wird ausgerufen. Doch die Rechnung der Regierenden geht nicht auf und selbst ein inszenierter Streik der Stadtreinigung führt nicht zu dem erhofften Resultat der Zermürbung, weil sich die Bürger selbst zu helfen wissen:

„… und das war der Stand der Dinge, als um punkt zwölf Uhr aus allen Häusern der Stadt Frauen traten, mit Besen, Eimern und Schaufeln bewaffnet, und ohne ein Wort vor ihrer Haustür zu kehren begannen, bis hin zur Straßenmitte, wo sie auf andere Frauen stießen, die in gleicher Absicht und mit den gleichen Utensilien bewaffnet von der anderen Straßenseite gekommen waren.. Wahrscheinlich kamen aus demselben Grunde auch am dritten Tag die Männer der Stadtreinigung auf die Straße zurück. Sie trugen nicht ihre Arbeitsuniformen, sondern Zivilkleidung. Die Uniformen, nicht sie seien im Streik, erklärten sie…“ (S. 191).

In ihrer arroganten Machtbesessenheit schrecken die Regierenden nicht vor terroristischen Maßnahmen zurück und versuchen mit einer Bombe dem weißen Widerstand Einhalt zu bieten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Auch der Bürgermeister der Hauptstadt wendet sich von der Regierung ab und erklärt seinen Rücktritt.
Die Anspannung wächst, an eine spontane, weiße Bewegung glaubt niemand, die politische Spitze ist überzeugt, es mit einer weißen Verschwörung zu tun zu haben, einer Verschwörung, die aufgedeckt werden muß, koste es, was es wolle.

In der Suche nach einem Schuldigem, einem Sündenbock findet die Groteske ihre dramatische Zuspitzung: Überzeugt, „dass es eine Beziehung zwischen der neuerlichen Blindheit des Weißwählens und jener anderen weißen Blindheit geben muss“, ist die Schuldige bald ausgemacht: Den Kopf hinhalten muss die Frau des Augenarztes, jener Frau, die damals vor vier Jahren als einzige nicht erblindet ist…

Saramago überzeugte auch im hohen Alter – im Gegensatz zu manch anderem älteren Kollegen des deutschen Literaturbetriebes – durch seine vorwärts gewandte Wachheit, durch seine moralisierende wie anklagende Grundhaltung und vor allem durch seine erzählende Brillanz,  das Erkannte den Lesern nahe zu bringen: Die Politikverdrossenheit, die sich in sinkenden Wahlbeteiligungen widerspiegelt, die infantile Weigerung von Politik und Medienindustrie die tiefe Vertrauenskrise der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie zur Kenntnis zu nehmen, die Ausrichtung auf eine High-Tech-gestützte Kontrollbürokratie mit einem totalitären Anspruch, welche selbst vor terroristischen Aktivitäten nicht zurückschreckt, die Diffamierung großer Bevölkerungsschichten als Nichtsnutze und Sozialschmarotzer, als DIE Schuldigen, die für alles herhalten müssen, diese und andere Themen hat Saramago seinem Publikum auf eine Weise nahe gebracht, die die Leserschaft eben nicht nur fesselt, sondern ihr auch die Augen auf das Gegenwärtige öffnet – Literatur als Sprengstoff für die Sinne, Literatur, die sehend im Sinne von um- wie weitsichtig macht. Solche Literatur dem kurzweiligen Zeitvertreib des Glotzens vorzuziehen, lohnt sich schon deshalb, weil solche Literatur gefährlich ist, weil solche Literatur die Sinne des Lesers umfassend mobilisiert.

Fraglich bleibt, wie den Gefährdungen einer verkrustet, erstarrten Demokratie begegnet werden kann, was den Schattenregierungen von globalen Beratungsagenturen und dem international hochkonzentriertem Finanz¬kapital  nicht nur entgegen zu halten ist, sondern wie diesen elitären Machtzentren Einhalt geboten werden kann. Die Ausrichtung des kritischen Bewusstseins auf das politische, genauer: das parlamentarische System allein ist genauso unzureichend, wie mystifizierend all seine Hoffnungen auf NGO´s und zivilgesellschaftliche Protestformen zu setzen. Dessen bewusst war sich auch Saramago: Und ob die Weigerung, sich dem bedeutungslosen Ritual der Wahl zu verweigern bzw. ein weißes Zeichen zu setzen, etwas ändert? Die „rot-rote“ Berliner Landesregierung „repräsentiert“ nicht einmal 25 Prozent der Wahlberechtigten Berlins und die Wahlbeteiligung ist auf ein beängstigend tiefes Niveau abgesunken. Eine Wahlpflicht würde gewiss den Druck auf die etablierten Parteien vergrößern, sich mehr um die Nicht- bzw. Weiß-Wähler zu kümmern.
Immerhin gibt es in Ländern wie Belgien, Griechenland, Luxemburg und anderen eine Wahlpflicht – und damit die Möglichkeit, weiß zu wählen! Zumindest so lange, bis die Saubermänner dieser Nation sich entscheiden eine neue Partei, die  „Weiße“, zu gründen. Ob sich deren Spitzenkandidaten für den Wahlkampf mit einer weißen Weste ausstaffieren würden, bleibt abzuwarten.

Hier die Rezension als PDF

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