Fragmentarische Anmerkungen zur Wahl 2021 oder die Optimierung der Scheindemokratie

Fragmentarische Anmerkungen zur Wahl 2021 oder
die Optimierung der Scheindemokratie
Update 1

All jene Kräfte, die sich im weitesten Sinne dem rechten Spektrum zuordnen lassen, werden trotz massiver Stimmenverluste bei der CDU die Sektkorken knallen lassen, denn ein wichtiges Ziel im „Klassenkampf“ wurde erreicht und wird für immer und ewig mit dem ausgedienten Spitzenkandidaten der CDU/CSU-Fraktion Armin Laschet verbunden werden: Der personifizierte Klassenfeind, die Links-Partei, konnte durch die Rote-Socken- und Angst-Kampagne von Laschet vor einer kommunistischen Verbots-Diktatur unter 5% gedrückt werden. Dass die Links-Partei trotz eines Stimmenanteils von 4,9% im Bundestag vertreten sein wird, ist nur den 3 Direktmandaten zu verdanken. Nach der Grundmandatsklausel im Bundeswahlgesetz (§6 Abs.3 Bundeswahlgesetz) kann eine Partei, die mindestens 3 Direktmandate gewinnt, in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen. Gewiss haben pareiinterne Auseinandersetzungen in der Links-Partei oder auch die interne Diskreditierung von Sarah Wagenknecht ihren Anteil am schlechten Wahlergebnis. Doch das Negativ-Campaigning von Laschet wie die gezielte Ausgrenzung von Gruppen, die zur Wählerklientel der Links-Partei gehören (s.u.), dürften neben der linksfeindlichen Einstellungshaltung in den Chefetagen der großen Medienhäuser ausschlaggebend für das schlechte Abschneider der Links-Partei gewesen sein.

Im Wahl-Debakel um mögliche Koalitionen wie um die „Königsmacher“ – ein demokratiefeindlicher Sprachgebrauch, der deutlich nicht nur die Einstellungshaltung der Meinungsmacher, sondern auch deren Wunsch nach einer starken Regentschaft, nach einem starken Führer, hinter dem alle geschlossen stehen, zum Ausdruck bringt – geht die systemrelevante Kernfrage nach dem Repräsentationsanspruch der parlamentarischen Demokratie wieder einmal verloren. Nichtwähler wie jene Wählerstimmen, die an der 5% Hürde gescheitert sind, spielen keine Rolle. Statt dessen wird durch die prozentuale Aufschlüsselung der abgegebenen und gültigen Stimmen der irreführende Eindruck erweckt, dass dieses Wahlergebnis den Volkswillen repräsentiert. Um dieser hochgradigen Manipulation in Birneder öffentlichen Berichterstattung entgegenzuwirken, müssten die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten wie die Wahlleitungen verpflichtet werden, bei der Berechnung der Stimmenanteile als Bezugsgröße nicht nur die abgegebenen Wählerstimmen zu berücksichtigen, sondern als Demokratie-und Repräsentationsindex die Zahl aller Wahlberechtigten unter Einbeziehung der verlorenen Wählerstimmen, deren Interessen aufgrund der 5%-Hürde im Parlament keine Vertretung gefunden haben. Erst wenn die Kennziffer aller Wahlberechtigten bei den Berechnungen zur Grundlage erklärt werden würde, erst dann wäre klar erkennbar, dass das Bild von „einer Koalition der Mitte“ (Christian Lindner, FDP) nichts anderes ist als ein verlogenes Trugbild.

Aber warum sollten sich die etablierten Parteien im postfaktischen Zeitalter um eine ehrliche, wahrhaftige Berichterstattung über den tatsächlichen Wahlausgang bemühen? Obwohl der Repräsentationsindex über ein Drittel der Wahlberechtigten nicht erfasst, hält der Bundestag im europäischen Vergleich die meisten Mandate und jeder Mandatsträger erhält eine monatliche „Abgeordnetenentschädigung“ in Höhe von 10.012,89 €, die zwar steuerpflichtig, aber von Rentenbeiträgen befreit ist. Hinzu kommt noch eine steuerfreie Aufwandsentschädigung in Höhe von monatlich 4560€. Die Mitarbeiter der Abgeordneten werden davon übrigens nicht bezahlt. Nur zum repräsentativen Vergleich: Nach Angaben von Statista lag im Jahr 2020 das monatliche Durchschnittsgehalt eines vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers bei 3975 € brutto. Zurück zu den Verlierern, jenem guten Drittel, die vom parlamentarischen System nicht repräsentiert werden.Auch wenn die Motivlagen für das Nicht-Wählen unterschiedlich ausfallen, so steht unterdessen fest, dass der Anteil von Nicht-Wählern unter den von Armut betroffenen Menschen besonders hoch ist1. In diesem Kontext ist den Regierenden ein regelrechter Clou gelungen: Wenige Wochen vor der Wahl ist Grundsicherungsempfängern und Hartz IV Betroffenen per Bescheid mitgeteilt worden, dass ihr Regelsatz um 3€ „erhöht“ wird. Noch deutlicher kann Verachtung wie das Gefühl, unerwünscht zu sein, nicht zum Ausdruck gebracht werden. Nicht-Wähler werden nicht nur billigend und schweigend in Kauf Ausrufungszeiichengenommen. Sie werden mit Vorsatz produziert. Der Erklärungsansatz ist einfach wie simpel: Wer „uns“ nicht wählt, dessen Interessen müssen auch nicht vertreten werden. Entsprechend wird das Thema einer „Wahlpflicht“ in den Massenmedien zu einem absoluten Tabu erklärt und nicht ernsthaft diskutiert.
Auf einer Veranstaltung einer parteinahen Stiftung über den „Nichtwähler – das unbekannte Wesen“ wurde die damalige Generalsekretärin der SPD, Katarina Barley, mit dem Hinweis konfrontiert, dass in den Demokratien mit Wahlpflicht die Einkommenskluft zwischen reich und arm geringer ausfällt als in Ländern ohne Wahlpflicht, weil in den Ländern mit Wahlpflicht die politischen Parteien regelrecht gezwungen sind, sich um alle Wähler zu bemühen. Barley erwiderte spöttisch mit der üblichen arroganten Selbstgefälligkeit, der Diskutant könne ja versuchen, einen Volksentscheid zur Einführung einer Wahlpflicht durchzuführen – wohl wissend, dass Themen mit „Verpflichtungen“ unpopulär und mit direktdemokratischen Instrumenten nicht durchsetzungsfähig sind. Der angesprochene Diskutant antwortete schlagfertig: Erfolgreicher wäre gewiss ein Volksbegehren, das vorsieht, die Höhe der Diäten an die Höhe der Wahlbeteiligung zu koppeln – nach dem Motto: Leisten die Volksvertreter ihre Arbeit und motivieren viele Wähler zum Urnengang, dann fallen die Diäten hoch aus. Ist die Wahlbeteiligung hingegen niedrig, dann fallen die Diäten für die parlamentarischen „Minderleister“ entsprechend niedrig aus. Die Leser dürfen raten, wer im Saal die Lacher auf seiner Seite hatte. Natürlich wird es weder zu einer Wahlpflicht kommen noch zu einer dynamischen Koppelung der Diäten an die Höhe der Wahlbeteiligung.

Neoliberale Verfechter eines Marktextremismus wie Christian Lindner (FDP) dürften ein anderes Modell favorisieren: Eine Art Wahl-Börse, an dem Unentschlossene wie Nicht-Wähler mit ihrer Wählerstimme handeln und diese schließlich bei entsprechenden Geboten verkaufen und feil bieten können. Wäre das nicht die Vollendung der „marktkonformen“ Demokratie? Smiley Frage

Doch unabhängig von diesen Modellen und Hirngespinsten gibt es zur Beruhigung des linken Gemüts zwei mehr oder weniger positive Nachrichten: In der zweitgrößten Stadt Österreichs, in Graz, hat die Stadträtin Elke Kahl von der kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) die Lokalwahlen gewonnen! Elke Kahls Vertrauensvorsprung kommt nicht von ungefähr: Sie spendet bereits seit Jahren 2/3 ihres Einkommens an Menschen, die von Armut betroffen sind. Ein Beispiel, das Schule machen sollte und gewiss geeignet wäre, um das Image nicht nur der Links-Partei auf Vordermann zu bringen. Mensch stelle sich einmal vor: Es gäbe eine überparteiliche Initiative von Abgeordneten, die von ihren Bezügen einen Betrag spenden, der über dem durchschnittlichen Bruttoverdienst in Deutschland liegt – und das über eine ganze Legislaturperiode.

Smiley ÄrgerDie zweite Nachricht ist leider ein Plazebo: Der Volksentscheid in Berlin zur Enteignung von Wohnungsunternehmen war zwar formell erfolgreich, jedoch inhaltsleer und ist rechtlich nicht bindend, weil die Initiatoren dem Volksentscheid kein Volksgesetz zugrunde gelegt haben! Diese Aufgabe – so die rein appellative Aufforderung der Abstimmung – soll ausgerechnet die Exekutive, also der Berliner Senat übernehmen. Was dabei herauskommt, hat bereits der Berliner Mietendeckel gezeigt. Und so bedarf es keiner prophetischen Fähigkeiten um vorher zu sagen, was geschehen wird. Der Senat wird ein Gesetz erarbeiten, das Abgeordnetenhaus wird das Gesetz diskutieren und verabschieden, die Opposition wie die Immobilienwirtschaft wird gegen das Enteignungsgesetz klagen und das Verfassungsgericht wird dieses Gesetz wie bereits den Mietendeckel kassieren und verwerfen. Währenddessen werden die Mieten weiter steigen. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die Mietenentwicklung bleibt gerade vor dem Hintergrund hoher Inflationsraten das vorrangigste und wichtigste Problem. Ein verfassungsrechtlich kompatibler Ansatz, der darüber hinaus auch den öffentlichen Haushalt nicht belasten würde, ist auch vom Verfasser, der übrigens selbst Mieter bei der Deutschen Wohnen ist, den Initiatoren vorgestellt worden, fand aber weder Gehör noch Berücksichtigung2. Statt dessen wurde das wichtigste und schärfste Instrument, die Volksgesetzgebung, zu einer 0-Nummer pervertiert, indem die wichtigste Funktion, die Macht zur Definition von Rechtsnormen durch die Erarbeitung eines Gesetzes, nicht genutzt wurde. Dabei zeichnet sich die direktdemokratische Volksgesetzgebung vor allem dadurch aus, dass klare rechtliche Lösungen formuliert werden, die im Idealfall frei von Kompromissen sind, während im Rahmen der parlamentarischen Gesetzgebung stets um (nicht selten faule) Kompromisse gerungen wird. Der einzige Rahmen, der auch bei der Entwicklung von Volksgesetzen eingehalten werden muss, ist die Wahrung der verfassungsrechtlich verbrieften Grundrechte. Leider haben die Initiatoren dieses Instrument weder genutzt noch geschärft, was nicht verwundert, wenn man sich mit den Biografien und „Verbandelungen“ der Strippenzieher und Wortführer näher befasst. Daher ist dieser Volksentscheid ein offensichtlicher Plazebo und es ist kaum verständlich,Dollar Sack warum die Journalie um dieses Nebelkerze so viel heiße Luft und Aufmerksamkeit produziert, während wirklich heiße Eisen wie die Schlüsselrolle von Olaf Scholz (SPD) nicht thematisiert werden. Warum der Spitzenkandidat der SPD mit Samthandschuhen behandelt wurde, verwundert vor dem Hintergrund der noch nicht absehbaren Folgen des Wirecard-Skandals. Nur zur Erinnerung: Als von Journalisten der Financial Times die Luftbuchungen aufgedeckt worden waren, hatte die BaFin nichts besseres zu tun, als Ermittlungsverfahren gegen die Journalisten und nicht gegen Wirecard einzuleiten. Die Rechtsaufsicht über die BaFin lag beim Finanzminister Olaf Scholz und wer glaubt, die BaFin hätte derartige Schritte ohne billigende Zustimmung des Kanzlerkandidaten und verantwortlichen Finanzministers vorgenommen, der glaubt auch an den Weihnachtsmann. Und was die „Wahlpannen“ in Berlin betrifft, da wären alle gut beraten, sich nicht mit dem Rücktritt der Berliner Landeswahlleiterin zu begnügen. Denn für die Überschneidung der Termine von Wahltag und Marathon ist sie nun wirklich nicht zur Verantwortung zu ziehen. Und ob die Engpässe beim Wahlpersonal durch zahlreiche, kurzfristige Krankmeldungen von Wahlhelfern möglicherweise ein gezielter Angriff von Querdenkern oder anderen subversiven Netzwerken stammt, wird das Wahlvolk höchstwahrscheinlich nie erfahren.

Thomas Rudek, Berlin, 30. Sept. 2021

Der Parlamentarismus ist die Kasernierung der politischen Prostitution“
Karl Kraus

Autovertreter verkaufen Autos, Versicherungsvertreter Versicherungen. Und Volksvertreter?“
Stanislaw Jerzy Lec

Hinweise:

Streitkultur: Sollten Wahlumfragen abgeschafft werden?
Der Mathematiker und Statistiker Gerd Bosbach und der Politik- und Meinungsforscher Richard Hilmer im Gespräch, Sendung des Deutschlandfunks vom 25.9.2021 nachzuhören unter
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2021/09/25/sollten_wahlumfragen_abgeschafft_werden_gerd_bosbach_vs_dlf_20210925_1705_835c3e98.mp3

Im Gespräch: Immer mehr Nichtwähler – Wie steigern wir die Wahlbeteiligung? Mit Ferda Ataman, Journalistin und Publizistin, und Prof. Dr. Armin Schäfer, Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität Münster,Sendung von Deutschlandfunk Kultur vom 25.9.2021 nachzuhören unter:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/nichtwaehler-wie-steigern-wir-die-wahlbeteiligung.970.de.html?dram:article_id=503240
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2021/09/25/immer_mehr_nichtwaehler_wie_steigern_wir_die_drk_20210925_0905_563cc727.mp3

Tagesgespräch – Berliner stimmen für Enteignung von Wohnungsbaugesellschaften: Was halten Sie davon?
Sendung von Bayern 2 vom 28.9.2021, Podcast unter https://media.neuland.br.de/file/1838031/c/website/berliner-stimmen-fuer-enteignung-von-wohnungsbaugesellschaften-was-halten-sie-davon.mp3

1Prof. Arnim Schäfer wurde von der ehemaligen Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) im Zusammenhang mit dem Reichtuns- und Armutsbericht beauftragt, ein Gutachten zur Responsivität in deutschen Parlamenten zu erstellen. Dieses Gutachten untersuchte in zahlreichen Politikfeldern die interessenspolitischen Einflussmöglichkeiten und kam zu dem empirischen Befund, dass von Armut betroffene Interessen unberücksichtigt bleiben.

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