Maybritt Illner oder Zensur als Moderationsprinzip? Wie die griechische Linke als Prügelknabe für die Eurokrise herhalten muss.

In der Kunst des Schönrechnens und der Erstellung von Milchmädchenrechnungen profilieren sich gerne Wirtschaftsexperten einer ganz bestimmten Couleur, um dann ihre über jeden Zweifel erhabenen Ergebnisse der Talk-Republik in der üblichen allwissentlichen Arroganz mitzuteilen. Solche Alibi-Experten werden auch deshalb gerne präsentiert, nicht um wissenschaftliche Aufklärungsarbeit zu leisten, sondern um die Stimmungsmache und Schuldzuweisungen von „wissenschaftlicher“ Seite absegnen zu lassen. So auch am 16.7.2015 bei Maybritt Ilnner. Unter dem Titel „Griechen zwangsgerettet – Europa gespalten?“ hatte Illner als Experten Hans Werner Sinn (Präsident des Münchner ifo-Instituts) und Silvia Wadhwa (Journalistin & Finanzexpertin) geladen. Wie immer wurde Hans Werner Sinn zuerst das Wort erteilt, der nun schon seit mehreren Wochen versucht, den bisherigen Aussagen, nach denen 90 % der gewährten Kredite zur Bedienung der europäischen Gläubiger verwendet wurden, eigene Berechnungen entgegenzuhalten. Seinen „Erkenntnissen“ zufolge sind nur 30 % der Kredite wieder an die Gläubiger-Banken zurückgebucht worden, während 30 % bei der griechischen Bevölkerung gelandet und 30 % von reichen Griechen durch Kapitalflucht ins Ausland transferiert worden sind. Wie wenig Sinn sein sinnloses Geschwätz von gerade interessiert, verdeutlichen seine „Ausführungen“ wenige Sekunden MI Wadhwaspäter, denn hier führt er jetzt die Summe von 38.000 Euro ins Feld, die durchschnittlich für die Rettung jedes Griechen ausgegeben werden (O-Ton Sinn 1:41 Min). Als die andere Expertin Silvia Wadhwa ansetzte, um den Zahlen von Hans Werner Sinn zu widersprechen und auf andere Quellen zu verweisen, wurde sie von Maybritt Illner jäh unterbrochen, weil darüber „schon häufig in der Sendung gesprochen“ wurde (O-Ton Illner und Wadhwa 1:21 Min). Merkwürdig: Wenn über diese hochgradig unterschiedlichen Berechnungen angeblich schon so häufig gesprochen wurde, warum lässt Illner dann zu, dass Hans Werner Sinn ungestört und ohne jeden Widerspruch seine „Ergebnisse“ vortragen kann? Vielleicht weil der Nachfolger von Hans Werner Sinn, Clemens Fuest, bereits wenige Tage zuvor im Zusammenhang mit der nicht gestellten Frage nach der Gegenfinanzierung der Rettungspakete für Griechenland eine Erhöhung der „Soli-Steuer“ ins Gespräch brachte? Als Leser erkennen Sie die Farce und die Bedeutung des Streits um die richtigen Zahlen: Fuest und Sinn wollen den Steuerzahler in Vorleistung nehmen, nicht um die griechische Bevölkerung, sondern um auch weiterhin die Gläubiger-Banken zu retten!

Wenn die deutschen Bürgschaften an die EZB jemals fällig werden sollten – und erst dann und zu keinem anderen Zeitpunkt – müssen andere Modelle umgesetzt werden: Im Handelsblatt fasst Dietmar Neuerer bereits 2013 die Ergebnisse eines Gedankenspiels unter dem Titel „IWF-Vorstoß – Angriff auf die Reichen“ zusammen: Ausgangspunkt ist der Anstieg der Verschuldung der „Euro-Staaten von 6000 auf 8600 Milliarden Euro … deutlich über 90 Prozent des BIP. Durch eine Vermögensabgabe von etwa 10 Prozent könnten die Schuldenstände von Euro-Ländern auf den Stand vor der Finanzkrise 2007 gedrückt werden… Der IWF hatte sich in seinem Fiskalbericht auch für höhere Spitzensteuersätze ausgesprochen. Unter Einnahmegesichtspunkten riet der Fonds Deutschland zu einem Spitzensteuersatz von 55 bis 70 Prozent.“  Von dieser einmaligen Vermögensabgabe wären alle Besitzer von Ersparnissen, Wertpapieren sowie Immobilien betroffen. Wenngleich viele Skeptiker und Bedenkenträger dieses Gedankenspiel abgelehnt haben, so gab es einige wie den Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, der das Potenzial dieses Vorschlags zumindest für die Krisenländer ausgelotet hat:

So stehe in Italien der Staatsverschuldung von 127 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ein Finanzvermögen der Privathaushalte von 175 Prozent des BIP gegenüber. „Eine Vermögensabgabe sollte allerdings selbstgenutzte Immobilien aussparen, weil ansonsten Hauseigentümer gezwungen sein könnten, sich zu verschulden, um die Abgabe zu entrichten“, fügte Krämer hinzu. „Außerdem sollten kleine Finanzvermögen nicht einer Vermögensabgabe unterworfen werden.“

Dieses Gedankenspiel zeigt die eigentliche Herausforderung, vor der die öffentlichen Medien und der Journalismus stehen, wenn ein Krisendiskurs ernsthaft geführt werden soll: Es müssen die Zusammenhänge durch erweiterte Perspektiven aufgezeigt werden. Die Fokussierung allein auf die Staatsschuldenquote ist völlig unzureichend und neoliberal-ideologisch motiviert. Auf die Notwendigkeit der Perspektiverweiterung wies auch Martin Lanz in dem NZZ-Artikel „Private und öffentliche Schulden.Der Klotz am Bein Europas“ vom 11.1.2014 hin:

„Die Krise in Europa wird immer wieder mit der hohen Staatsverschuldung in Verbindung gebracht… Möglicherweise ist es aber die Verschuldung der privaten Haushalte und der Unternehmen, die dem Wirtschaftsgang in Europa besonders stark zusetzt… In der Euro-Zone betrug die Verschuldung des Privatsektors (private Haushalte und Nicht-Finanzunternehmen) gemessen am BIP am Ende des zweiten Quartals 2013 168%. Sie lag damit etwas über der Quote der USA, die am Ende des dritten Quartals bei 160% lag. Die höchsten Quoten weisen Luxemburg (369%), Irland (323%), Portugal (257%), Belgien (247%), die Niederlande (222%) und Spanien (208%) auf. Solch hohe private Schuldenstände sind problematisch. Auch wenn es keine feste Regel gibt, gilt für die Privatverschuldung Ähnliches wie für die Staatsschulden: Ab einem gewissen Niveau verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum. In einem Arbeitspapier haben Ökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) indikative Schwellenwerte von 90% des BIP für Firmenschulden und 85% für Privatschulden ermittelt, ab denen das Wachstum beeinträchtigt wird.“

schulden dieser welt spiegel 05022015Erst die Einbindung anderer volkswirtschaftlich relevanter Faktoren wie die Unternehmensverschuldung, die private Verschuldung und natürlich die Einbeziehung der Ergebnisse der Banken-Stresstests ergeben ein vollständiges Bild. Und wer auf Vollständigkeit beispielsweise durch die Ausblendung der Vermögensverteilung und Vermögensentwicklung verzichtet, wird sich vorhalten müssen, dass er an einer zukunftsfähigen und gesellschaftlich sozial-tragfähigen Lösung kein Interesse hat, sondern andere Ziele verfolgt. Besonders besorgniserregend ist die Ausrichtung der Hoffnung auf Wachstumsraten als die alleinigen Heils- und Glücksbringer. Dass nicht einmal der Anschein erweckt wird, den Wachstumsbegriff zu differenzieren und die Bedeutung eines qualitativen Wachstums herauszustellen, ist ein deutliches Zeichen für die Verweigerungshaltung des Meinungskartells.

Thomas Rudek
Interessengemeinschaft für Demokratie, Bürgerbeteiligung und Transparenz (IG DeBüT)

 

 

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