Mobilmachung durch massenmediale Gehirnwäsche im Turbogang
Warum in den Leitmedien nicht über die atomare Eskalation
des Ukraine Konflikts diskutiert wird.
Am Montag, dem 9.3.2015, wurde im Deutschlandradio Kultur um 19.30 Uhr eine halbstündige Sendung zum Thema “Lügenpresse und Co. Warum die Medien am Pranger stehen” von Michael Meyer ausgestrahlt. Auch wenn am Ende – wie nicht anders zu erwarten – das Loblied auf die öffentlich-rechtliche Medienlandschaft angestimmt wurde, so ist neben der Dämonisierung von Wladimir Putin die Tabuisierung des Themas einer möglichen atomaren Eskalation des Ukraine-Konflikts mehr als auffällig. Selbst als in der Phoenix Runde vom 12.3.2015 zum Thema „Nur Drohgebärden? NATO und Russland rüsten auf“ diskutiert wurde, gab nur Prof. Andreas Bock seine persönliche Einschätzung zu der Gefahr einer atomaren Eskalation wieder (O-Ton Bock 2:26 Min). Harald Kujat, ehemaliger Vorsitzender des Militärausschusses der NATO und Generalinspekteur der Bundeswehr a.D., beließ es bei dem Hinweis auf die „Eskalationsdominanz“ Russlands im Ukraine-Konflikt und hinterfragte die Sinnhaftigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine (O-Ton Kujat 1:03 Min). Das zwingende Erfordernis, über eine mögliche atomare Eskalation öffentlich und ausführlich zu diskutieren, ergibt sich auch aus einem Vortrag von Prof. Dr. Hans-Henning Schröder über „Russland als Großmacht in einer multipolaren Welt?“, der auf dem Sender 3sat in der Reihe „Teleakademie“ am 22.2.2015 um 6.45 Uhr ausgestrahlt wurde. Schröder ließ keinen Zweifel aufkommen, dass Russland zumindest hinsichtlich seiner mit den USA vergleichbaren Ausstattung mit Nuklearwaffen nach wie vor als Großmacht angesehen werden muss (O-Ton Schröder 1:10 Min).
Was die Gefahr einer nuklearen Eskalation betrifft, äußerte sich die Grüne Abgeordnete Marieluise Beck (für Bündnis 90 / Die Grünen auch im Auswärtigen Ausschuss) beim Talk mit Maybritt Illner am 26.2.2015 zum Thema „Merkels Worte, Obamas Waffen – was hilft der Ukraine?“ eher zerstreuend als alarmierend. Gerade in Anbetracht dieser thematischen Fokussierung hätten die Zuschauer erwarten können, dass im Rahmen dieser Runde auch über die Möglichkeiten einer atomaren Eskalation im europäischen Raum diskutiert wird. Statt diese Eskalierungsstufe in die Diskussion einzubeziehen, hatte Beck nicht besseres zu tun, als die 1994 vom Westen und Russland durchgesetzte atomare Abrüstung der Ukraine als Vertrauensbruch darzustellen (O-Ton Beck 0:49 Min). Immerhin hat Maybritt Illner in einem Einspieler die Rolle der amerikanischen Regierung bei der militärischen Unterstützung der Ukraine thematisiert (O-Ton des Einspielers 1:29 Min), jedoch gleichzeitig den Eindruck vermittelt, es würde sich lediglich im Rahmen des „Ukraine Freedom Support Act“ um konventionelle Waffen zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit handeln, also um Panzerabwehrwaffen, Schusswaffen und Munition, Aufklärungsradarsysteme und Überwachungsdrohnen. Inwieweit die finanziellen Unterstützungen auch zu einer atomaren Aufrüstung der Ukraine beispielsweise durch entsprechende Einkäufe über die Vereinigten Arabischen Emirate oder auf den Schwarzmärkten des Waffenhandels führen könnten, wurde bezeichnenderweise nicht diskutiert.
Aufschlussreich über die Qualität der militärischen Unterstützung waren die Ausführungen von jemandem, der unmittelbar an der vordersten Frontlinie die Verantwortung trägt und sowohl als Kommandeur der US Army Europe die Interessen der USA wie die der NATO vertritt: Am 7.3.2015 wurde im Sendeformat „Tacheles“ des Senders Deutschlandradio Kultur ein halbstündiges Interview mit Lieutenant General Ben Hodges ausgestrahlt, in dem er sich auch zu dem Terminus „Nicht tödliche Waffen“ äußerte und zu verstehen gab, dass er ein Gespräch über „Angriffs- und Verteidigungskapazitäten“ bevorzugen würde (O-Ton Hodges 0:35 Min). Seine Äußerungen über die Notwendigkeit eines Zeitgewinns für die Ukraine und das Nato-Bündnis zur Destabilisierung weniger Putins als Russlands wurden konkretisiert durch seine Angaben zu der dauerhaft angelegten Präsenz von Manövern in Osteuropa (O-Ton Hodges 2:32 Min).
Analysiert man – losgelöst von der Tabuisierung des Themas einer atomaren Eskalation – Diskussionssendungen über den Ukraine-Konflikt in der öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft, dann drängt sich der Eindruck auf, dass auf der einen Seite die ukrainischen Machtführer als Repräsentanten westeuropäischer Werte glorifiziert und die Maidan-Protestbewegung mystifiziert werden, während Putin dämonisiert und mit Stalin auf eine Stufe gestellt wird. Neben der Sendung mit Maybritt Illner können als weitere Nachweise für die Inszenierung von massenmedialen Schauprozessen stellvertretend auch Günther Jauch und Sandra Maischberger ins Feld geführt werden, die den manipulativen Prozess der Konsensfabrik noch durch ihre Offensichtlichkeit und aggressive Vorverurteilung in den Schatten stellen. Unter der Fragestellung „Zar Wladimir I. – Was will Putin wirklich?“ hatte Sandra Maischberger am 24.2.2015 neben der Journalistin und ehemaligen Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz folgende weitere Gäste geladen: Die Ukrainerin und ehemalige Piraten-Geschäftsführerin Marina Weisband, den ehemaligen grünen Bundestags- und Europaabgeordneten Werner Schulz, den Chefredakteur des russischen Senders „RTDeutsch“ Ivan Rodionov, den Diplomaten und Schweizer Botschafter in Berlin Tim Guldimann sowie den Historiker Arnulf Baring, der auch Botschafter der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ war und Mitglied im Beirat der „Atlantischen Initiative“ ist. Bereits diese personelle Überfrachtung lässt unschwer erkennen, dass an einem ernsthaften und seriösen Gespräch kein Interesse bestehen konnte. Im Vordergrund stand die Inszenierung eines Schlagabtauschs, der für eine argumentative Untermauerung der bezogenen Stellungen durch die hohe Anzahl der Meinungsträger nicht den notwendigen Raum ließ. Hätte die Redaktion die Runde auf den Grünen und Befürworter von Waffenlieferungen Werner Schulz, den Diplomaten Tim Guldimann und die Russland-Kennerin Gabriele Krone-Schmalz begrenzt, wären die Voraussetzungen für eine sachbezogene Gesprächsatmosphäre entstanden. Auch bei der Jauch-Sendung „Putins Russland – Auf dem Weg zur Diktatur?“ vom 8.3.2015 ging es der ARD bzw. der Jauch-Redaktion um alles andere als um eine sachliche Auseinandersetzung. Den Mord am russischen Oppositionskritiker Boris Nemzow zum Anlass nehmend, wurde auch hier das Instrument der personellen Überfrachtung gewählt, um eine sachliche Diskussion vorsätzlich zu vereiteln. Neben den Gästen Zhanna Nemzowa (Tochter Boris Nemzows), Garri Kasparow (Oppositionspolitiker,zugeschaltet), Alfred Reingoldowitsch Koch (ehem. russischer Vize-Ministerpräsident), Ina Ruck (Moskau-Korrespondentin), Matthias Platzeck (SPD, Deutsch-Russisches Forum) und Vladimir Kondratiev (Deutschlandkorrespondent im russ. Fernsehen) wurden durch interessenspolitisch extrem einseitig ausgerichtete Einspieler der Vorverurteilung Putins der Weg geebnet. Um den ersten russischen Ermittlungsergebnissen im Mordfall Boris Nemzow die Glaubwürdigkeit abzusprechen, wurde im Rahmen eines Einspielers eine Todesliste mit zehn ermordeten russischen Bürgerrechtlern, Oppositionellen und Systemkritikern eingeblendet, um auch diese Todesfälle Putin anzulasten (Einspieler Todesliste 5:03 Min). Versuche von Matthias Platzeck um eine differenzierende Betrachtung wurden von Jauch ignoriert (O-Ton Platzeck, Jauch 2:25 Min). Es ist sehr interessant und aufschlussreich, dass die Schlüsselfrage „Cui bono? – Wem nützt dieser Vorfall?“ nicht zur Diskussion gestellt wurde. Vor dem Hintergrund des kürzlich abgeschlossenen Minsker Abkommens zum Waffenstillstand in der Ukraine würde Putin sich mit einem Auftragsmord an einem russischen Oppositionellen selbst das Wasser abgraben. Innenpolitisch hätte ein von ihm befohlener Auftragsmord eine Beschleunigung der Destabilisierung zur Folge und auch außenpolitisch profitieren nur die Gegner Putins von einer Gerüchteküche, wie sie vom Chefkoch Jauch und seiner Company mit äußerst kargen Zutaten betrieben wurde.
Dass viele Bürger sich nicht so billig abspeisen lassen, musste auch der Programmbeirat des ARD zur Kenntnis nehmen, als dieser sich bereits im letzten Jahr mit einer „Flut von Publikumsbeschwerden“ (Paul Siebertz, Vorsitzender ARD-Programmbeirat) konfrontiert sah. Dank eines Whistleblowers gelangten Teile des bedauerlicherweise vertraulich gehaltenen Protokolls an die Öffentlichkeit, das in Auszügen auch im Internet einsehbar ist. Dadurch wurde bekannt, dass der Programmbeirat zahlreiche Kritikpunkte teilte, was Siebertz anlässlich einer auf Phoenix am 27.10.2014 ausgestrahlten Diskussionssendung „Der Ukraine-Konflikt in den Medien“ entsprechend zusammenfasste (O-Ton Siebertz 7:24 Min). Neben der unmissverständlichen Differenzierung in der Berichterstattung von belegbaren Fakten und spekulativen Vermutungen ist eine Berücksichtigung von Hintergrundinformationen unverzichtbar: Fehlende Informationen zum Stellenwert des Assoziierungsabkommens oder zur Rolle der NATO und der EU oder zu den geschichtlichen Zusammenhängen in Verknüpfung mit den Ethnien und Sprachproblemen sind nur einige Beispiele für die Unterversorgung mit relevanten Informationen, will man den Ukraine-Konflikt in seiner Tragweite verstehen und beurteilen. Vor allem kritisiert Siebertz die „personalisierte Berichterstattung“. Die Art, wie die Verantwortung für die Vorkommnisse projektiv und einseitig Wladimir Putin angelastet werden, entspricht weder der Realität von Entscheidungsprozessen noch entspricht sie dem Auftrag der öffentlich-rechtlichen Medien zu einer unabhängigen, ausgewogenen Berichterstattung. In der an die Öffentlichkeit gelangten Zusammenfassung des Protokolls der Beiratssitzung heißt es: Soweit das Versäumnis anstehender Fehlerkorrekturen „in der aktuellen Berichterstattung nicht sofort geleistet werden kann, muss es in den Formaten der Hintergrundberichterstattung, in den Tagesthemen, in den Magazinen und in speziellen Features, aber auch mit geeigneten Gesprächspartnern und Experten in den Talkformaten nachgeholt“ und nicht fortgesetzt werden.
In Anbetracht der jüngsten Entgleisungen auf den deutschen Talkbühnen drängt sich die Frage auf, ob die doch sehr moderat formulierte „Botschaft“ des Programmbeirats möglicherweise die verantwortlichen Redaktionsteams nicht erreicht hat oder ob die in der Verantwortung Stehenden lediglich „ihre Lauscher auf Durchzug gestellt“ haben – nach dem Motto: „Was interessiert mich der Programmbeirat, wo wir doch unsere FUNKtionierenden Netzwerke haben?“ Sollte letzteres der Fall sein, dann sollte möglicherweise doch in Erwägung gezogen werden, jeden einzelnen dieser Meinungsmacher als Persona non Grata aus der öffentlich-rechtlichen Medienlandschaft zu verbannen.
Dass auch mit anderem Vorzeichen getalkt und vor allem – dank Corinna Milborn -(wohltuend) neutral moderiert werden kann, zeigt die österreichische Konkurrenz. In der Talksendung „Puls4“ wurde das Thema „Eiszeit zwischen Putin und Europa: Droht uns ein neuer Kalter Krieg?“ mit den Gästen Eric Frey (Der Standard), Wolfgang Petritsch (Österreichischer Diplomat), Johannes Voggenhuber (ehem. Abgeordneter der Grünen im EP) und Dirk Müller (Börsenexperte und bekannt als „Mr. DAX“) ohne Einspieler kontrovers diskutiert. Nachdem der Standard-Redakteur Eric Frey versucht hatte, das geopolitische Interesse der USA an der Ukraine zu leugnen und den Konflikt als rein europäischen Konflikt darzustellen (O-Ton Frey / Müller 2:50 Min), reagierten sowohl Müller als auch Voggenhuber (O-Ton Voggenhuber 2:50 Min) klarstellend offensiv. Gerade was die Bedeutung des Assoziierungsabkommens als einen Frontalangriff auf die geopolitischen Interessen Russlands betrifft, ist sowohl Voggenhuber (O-Ton Voggenhuber 1:27 Min) als auch bestätigend dem Diplomaten Petritsch (O-Ton Petritsch 2:08 Min) die Möglichkeit eröffnet worden, die offensive Ausrichtung des Assoziierungsabkommens in aller Deutlichkeit herauszustellen. Leider ging Dirk Müller nicht auf die von Corinna Milborn gestellte Andeutung einer atomaren Eskalation ein, stellte jedoch klar, dass nicht mehr von einem kalten, sondern von einem heißen Krieg mit einem hohen Eskalationspotenzial für Europa gesprochen werden muss (O-Ton Müller 2:28 Min). Und der Diplomat Petritsch ging gar so weit, dass er eine Distanzierung Europas von den strategischen Interessen der USA forderte (O-Ton Petritsch 0:55 Min).
In den genannten deutschen Talk-Formaten wurde das geopolitische wie geostrategische Interesse der USA zu keinem Zeitpunkt in dieser Deutlichkeit und „Ausführlichkeit“ thematisiert. Inwieweit diese Zurückhaltung deutscher Redakteure historisch motiviert ist, oder doch auf die von der ZDF-Satire-Sendung „Die Anstalt“ aufgedeckten Vernetzungen – besser: interessenspolitischen Verstrickungen – von Führungskräften aus deutschen Medien mit transatlantischen Stiftungen, Think-Tanks etc. zurückzuführen ist, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Nur dass Zurückhaltungsgebote eine Rolle spielen, lässt sich am Beispiel eines Schlagabtauschs zwischen dem europäischen Parlamentspräsidenten Martin Schulz und dem amerikanischen Berater James W. Davis erahnen, indem der jugendlich anmutende Davis selbstüberschätzend Martin Schulz belehrt, dass es die amerikanischen Streitkräfte waren, denen Schulz seine Redefreiheit heute zu verdanken hat (O-Ton Davis mit der sehr folgsamen Antwort vom Präsidenten aller europäischen und nicht amerikanischen Parlamentarier Martin Schulz 2:36 Min). Leider verfügte Herr Schulz nicht die Geistesgegenwart, die Zahlen der Opferbilanz von amerikanischen und sowjetischen Toten der Öffentlichkeit ins Gedächtnis zu rufen. Während die amerikanische Seite 400.000 tote Soldaten zu beklagen hatte, musste die Sowjetunion 27 Millionen Tote verkraften und trotz dieses Verlustes auch bei der weiteren Entwicklung i.R. des Kalten Krieges einen Großteil der volkswirtschaftlichen Ressourcen in die nukleare wie konventionelle Rüstung investieren! Dass diese Zahl der sowjetischen Opfer im II. Weltkrieg im Leitmedium TV nicht ganz in Vergessenheit gerät, ist dem Kabarettisten Volker Pispers zu verdanken, der anlässlich der Verleihung des diesjährigen Kleinkunstpreises die Chance nutzte, um auf diesen und andere historische Sachverhalte hinzuweisen (O-Ton Pispers 5:30 Min).
Abschließend soll noch einmal der „vertrauliche“ Bericht des Programmbeirats Erwähnung finden. Eine dort enthaltene To-Do-Liste benennt unter anderem auch die Produktion eines „Feature(s) über die Geschichte der Ukraine“, „um die tieferen Ursachen für die gegensätzlichen Interessen und damit die Krise in der Ukraine verständlich zu machen“. Am 20.3.2015 wurde dieses herausragende 45-minütige Feature von Klaus Müller unter dem Titel: „Die Ukraine am Abgrund. Wie oligarchische Politik und ethnische Polarisierung die Ukraine zerreißt“ ausgestrahlt. Ob dies das ersehnte Licht am Ende des Tunnels ist, oder doch nur das Licht des Atomblitzes einer jener “Mini-Nukes”, mit denen auch begrenzte Atomkriege geführt werden können? In Anbetracht der Wahrnehmungsresistenz unser Talkmeister und ihrer Redaktionsstäbe würde diesem Personenkreis ganz gewiss auch infolge eines solchen Blitzes immer noch kein Licht aufgehen. Jauch, Illner, Maischberger und die anderen Protagonisten der Konsensfabrik kanalisierten die Empörungsenergie der Bevölkerung in systemkonforme Bahnen: Hypnotisch eingeschworen auf alt vertraute Feindbilder muss Russland wieder einmal für alles den Kopf hinhalten, während die Friedensbewegung ins Leere läuft. Wohin sollte sie auch laufen, beraubt jeder Empörungsgrundlage?
Die Hardliner im Kreml werden sich, in die Defensive gedrängt, nicht nur Gedanken machen, wie sie ihren Interessen Geltung verschaffen können. Sie werden sich auf ihre ganz entscheidende, vielleicht sogar einzige Stärke besinnen, und ein geeignetes Ziel anvisieren, um ein abschreckendes Beispiel zu exerzieren. Die einzige Stärke, die Russland aufzuweisen hat, ist ihre Nuklearmacht. Und wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, der wird zumindest nicht ausschließen können, dass möglicherweise Dänemark jenes Land ist, das herhalten muss für die blindwütige Machtpolitik eines Europas, dass sich von den Interessen der USA immer noch nicht zu emanzipieren versteht. Freilich erscheint das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP unter militärischen Gesichtspunkten in einem ganz anderen Licht: Ein freier, unbeschwerter Warentransfer beschleunigt nicht nur den Wiederaufbau eines von Nukleareinschlägen gebeutelten Europas, es wird auch die amerikanischen Wachstumsraten in ungeahnte Höhen führen, während die Rohstoffreserven im größten Land der Welt endlich mit modernsten Technologien effizient gefördert werden.
Alternativen wie „eine demokratische Regionalisierung statt einer totalitären Globalisierung“ scheinen nicht gefragt und nicht gefördert. Hoffnungen auf eine neue von den Kirchen und Gewerkschaften getragene neue Friedensbewegung, wie sie von Gabriele Krone-Schmalz am Ende der Maischberger Sendung vorgetragen wurden (O-Ton Krone-Schmalz 1:24 Min), stehen auf verlorenem Posten, zumindest solange es nicht gelingt, die Diskussion um die Gefahren einer atomaren Eskalation mit der gebotenen Kontinuität und Offenheit in den Massenmedien zu führen – und zwar auf einem respektablen Niveau und nicht auf dem eines unterbelichteten Stammtisches.
In auffälliger Selbstgefälligkeit nahmen viele der zitierten Diskutanten für sich in Anspruch, als Anwälte für die Pressefreiheit, die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und das, was unter der westlichen Wertegemeinschaft verstanden wird, auftreten zu können. Spätestens nach dem Feature von Klaus Müller über „Die Ukraine am Abgrund“ dürfte die Kluft zwischen dem Gewünschten und dem Tatsächlichen offensichtlich werden, vermittelt dieses Feature doch einen substanziell recherchierten Einblick in die Clanwirtschaft der ukrainischen Oligarchen, von der auch der jetzige Präsident Petro Poroschenko nicht ausgeschlossen ist. Und während sich hier viele über die Ermittlungen im Mordfall Boris Nemzow brüskieren, wird nur allzu gerne übersehen, dass die Ausschreitungen des Maidan-Protestes nicht geklärt sind und ein Untersuchungsbericht bis heute nicht vorliegt. Und weiter: „Am 12. Februar präsentierte die BBC eine Dokumentation, nach der radikale Vorkämpfer des Protests an den tödlichen Schusswechseln beteiligt waren. Über mögliche Hintermänner herrscht Unklarheit“ (Feature v. Klaus Müller, Tanscript (PDF) S.3). Ob diese Dokumentation auch hier ausgestrahlt wird? Mehr noch: Vor dem Hintergrund der tribunalartigen Ausrichtung der zitierten Talksendungen sollte für die Zukunft sicher gestellt sein, dass nicht nur die Moderatoren, sondern auch die Mitarbeiter der Redaktionen wie die geladenen Gäste sowohl das Feature gehört als auch die Dokumentation gesehen haben müssen, sollte das Thema der Ukraine erneut auf die Agenda gesetzt werden. Und vielleicht sieht dann selbst Martin Schulz seinen Kollegen Poroschenko in einem etwas anderen Licht (O-Ton Wagenkecht mit Schulz Lobgesang auf Poroschenko als Garantem für Demokratie 2.12 Min).
Bleiben wir noch bei den Aufklärungsdefiziten in unserem Haus, der Mediendemokratie, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Warum bedarf es eigentlich immer noch vertraulicher Protokolle in Gremiendünkel öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten? Warum wird die Empörung in den Ländern des Nahen Ostens hoch gehalten, aber die Empörung der Bürgergesellschaft als Shitstorm der Wutbürger abgetan? Gerade nach den Auflagen des Bundesverfassungsgericht zu mehr Staatsferne und mehr Bürgernähe wäre es da nicht angebracht, das digitale Zeitalter offensiv, transparent und demokratisch zu nutzen, indem Sitzungen gestreamt, aufgezeichnet und als Podcast für Interessierte im Internet zur Verfügung gestellt werden? Wäre das nicht eine gelebte, transparente, demokratische Beteiligungskultur, die nicht nur der demografischen Entwicklung entspricht, sondern auch den Anforderungen einer auf Inklusion ausgerichteten Gesellschaft? Damit Meinungsfreiheit und Pressefreiheit funktionieren, bedarf es einer Grundlage, den Zugang zu Information. Und um diesen Zugang scheint es in der Mediendemokratie der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nicht besonders gut bestellt zu sein. Wen wunderts? Glasnost war keine deutsche Eingebung!
Thomas Rudek, Interessengemeinschaft für Hörerbeteiligung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Alle O-Töne stammen aus Sendungen, die in ihrer Gesamtheit als aufgezeichnete Tonspuren im MP3-Format jederzeit angefordert werden können.