Deutschlandradio Kultur schaltet Nachtgespräche ab – Hörer machen mobil „Die Petition ist nur der Auftakt“ – Gaby Weber (Journalistin) und Werner Rügemer (Publizist) im Gespräch mit Thomas Rudek

Deutschlandradio Kultur schaltet Nachtgespräche ab – Hörer machen mobil / „Die Petition ist nur der Auftakt“ – Gaby Weber (Journalistin) und Werner Rügemer (Publizist) im Gespräch mit Thomas Rudek von der Interessengemeinschaft für mehr Hörerbeteiligung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Werner Rügemer: Die neue Programmreform des Deutschlandradios läuft ab 21.6. Die Programmleitung will den Sender „fit für die Zukunft“ machen. Sie haben diese Reform zum Anlass genommen, eine „Interessengemeinschaft für mehr Hörerbeteiligung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ zu gründen. Was verfolgen Sie für Ziele?

Thomas Rudek: Genau genommen war der Anlass die Abschaltung der Nachtgespräche. 22 Jahre hatten die Menschen fast jede Nacht zwischen ein und zwei Uhr die Möglichkeit zum Hörer zu greifen, die kostenfreie Telefonnumer 00800 2254 2254 zu wählen und zu einem aktuellen Thema die eigene Meinung öffentlich zur Diskussion zu stellen. Ein solches Forum der Hörerbeteiligung ist nicht nur einzigartig, sie ist auch in der Medienlandschaft ein Beispiel, wie Mediendemokratie und politische Meinungsbildung von unten gestaltet werden kann und eben nicht so, wie der Medienwissenschaftler Noam Chomsky das in seinem Film „Die Konsensfabrik“ dargestellt hat, dass nur die Eliten unser Denken indoktrinieren. Und jetzt wird diese Restgröße an mediendemokratischer Beteiligungskultur platt gemacht! Und damit das nicht weiter auffällt, wird die Abschaltung der Nachtgespräche in die Fußball-Weltmeisterschaft gelegt. Das ist in einem Zeitalter, in dem die Bürgerbeteiligung ganz oben auf der Tagesordnung stehen sollte, ein echter Skandal und ich bin sehr froh, dass Hörer die ONLINE-Petition rettet2254.info gestartet haben, auch um das Ausmaß der Empörung und Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen.

Gaby Weber: Die Programmverantwortlichen berufen sich auf eine Mapping-Studie, eine umfangreiche Untersuchung, an der angeblich 4000 Hörer teilgenommen haben. Ist das nicht eine gute Grundlage für eine Programmreform?

Thomas Rudek: Wenn diese Hörerbefragung tatsächlich eine seriöse Grundlage für die Abschaltung der Nachtgespräche gewesen wäre, warum hat die Chefetage dann diese Hörerbefragung nicht offen gelegt? Die traurige Wahrheit ist: 1. Die geheime Hörerbefragung war nur auf die Prime-Time, also auf das Tagesprogramm ausgerichtet. Und 2. war der Rücklauf so gering, dass nicht einmal 200 belastbare Aussagen – wie gesagt mit Bezug auf das Tages- und nicht auf das Nachtprogramm – der Entscheidung zugrunde gelegt werden konnten. Das ist mir von mehreren Mitarbeitern des Deutschlandradios offenbart worden. Darum ist festzuhalten: Unter dem Deckmantel einer so genannten Programmreform sollten nicht nur die Nachtgespräche abgeschaltet werden, auch die kritische Samstags-Kolumne „Mahlzeit“ des Lebensmittelchemikers Udo Pollmer wurde abgesetzt. Ob dafür in dieser geheimen Hörerbefragung tatsächlich ein überwältigendes Votum abgegeben worden ist, muss solange bezweifelt werden, solange die Umfrage und die Auswertung nicht offen gelegt wird.

Werner Rügemer: Mit geheimen Dokumenten haben Sie als Verfasser und Sprecher des ersten erfolgreichen Berliner Volksentscheids zur Offenlegung von Geheimverträgen, die 1999 im Zusammenhang mit der Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe abgeschlossen worden sind, Erfahrungen sammeln können. Benötigen wir auch hier eine neue Volksinitiative für eine umfassende Transparenz beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk?

Thomas Rudek: Zunächst ist es ein Armutszeugnis, wenn die Chefetage eines öffentlich-rechtlichen Senders glaubt, eine aus GEZ-Gebühren finanzierte Studie geheim halten zu dürfen. Führungskräfte sollten eine Vorbild-Funktion haben, vor allem die eines dienstleistenden öffentlichen Unternehmens, dass sich „Deutschlandradio Kultur“ nennt. Ich bin verwundert, dass Führungskräfte immer noch nicht demokratische Werte wie Transparenz und Beteiligung verinnerlicht haben. Stattdessen müssen wir Bürgerinnen und Bürger Selbstverständlichkeiten einfordern und dafür auf juristische Mittel zurückgreifen. Im Fall dieser Umfragestudie und der Auswertungsergebnisse kommen verschiedene Ansätze in Betracht: Neben einem eingehenden Appell an den gesunden Menschenverstand der Chefetage werden wir offensichtlich einen Antrag auf Einsicht nach dem Informationsfreiheitsgesetz stellen müssen. Dann gibt es im Internet das Portal „Frag den Staat“, auf dem die geheimen Berliner S-Bahn-Verträge veröffentlicht worden sind. Und schließlich besteht die Möglichkeit, unsere Abgeordneten in die Pflicht zu nehmen, Licht ins Dunkel zu bringen. Auch hoffe ich sehr, die NGO „Transparency International“ für dieses Thema gewinnen zu können. Transparency hatte uns beim Volksentscheid zur Offenlegung der geheimen Berliner Wasserverträge unterstützt.

Gaby Weber: Die Programmverantwortlichen, Herr Weber und Herr Heimendahl, erklären die Abschaltung der Nachtgespräche, mit dem Hinweis, dass es sich bei der Hörerschaft der Nachtgespräche nur um eine kleine Randgruppe von Menschen handelt.

Thomas Rudek: Das ist eine unbewiesene Behauptung, die bereits durch die technischen Ausstattungsmerkmale des Studios widerlegt werden kann. Zwei Mitarbeiter nahmen die eingehenden Anrufe an. Es waren jede Nacht acht Leitungen geschaltet, trotzdem gab es oft kein Durchkommen, weil andauernd besetzt war. Auch der Vorwurf, es handele sich immer wieder um die gleichen Anrufer, ist blanker Unsinn. Wenn ich mehrmals in der Woche angerufen habe und das Glück hatte, durchzukommen, wurde ich um Verständnis gebeten, dass man mich nicht schon wieder zum Moderator durchstellen könne, weil ich in dieser Woche schon die Gelegenheit hatte, mich zu äußern. Dafür hatte ich natürlich Verständnis. Doch viel wichtiger ist die Frage, wie groß die Zahl von Stillen Hörern war, also von Menschen, die sich gar nicht persönlich zu Wort melden wollten, sondern die es bereichernd empfunden haben, den Nachtgesprächen zuzuhören und sich die Ansichten und Vorschläge anzuhören. Und da war es für mich überraschend, wie viele dieser stillen Hörer in den letzten zwei Wochen zum Telefon gegriffen und sich zu Wort gemeldet haben, um ihre tiefen Enttäuschung über das Ende der Nachtgespräche mitzuteilen. Diese Betroffenheit hat uns sehr berührt.

Gaby Weber: Wer waren denn diese Anrufer? Wutbürger, die sich ihren Ärger von der Seele reden wollten, dass sie wieder einmal ausgeschlossen werden sollen? Oder Leute, die schon lange andere Informationsquellen als die öffentlich-rechtlichen benutzen?

Thomas Rudek: Nicht Wutbürger, sondern Mutbürger. Auch wenn das Archiv der Nachtgespräche mit Audiodateien jetzt nicht mehr so leicht zu finden ist, so können sich Interessierte ein selbständiges Bild über das hohe Niveau der Wortbeiträge machen. Ich hoffe, dass das Archiv nicht gelöscht wird. Nach der Pressekonferenz des Deutschlandradios kam es noch zu bilateralen Gesprächen und Programmdirektor Weber versicherte mir persönlich, dass das Archiv der Nachtgespräche nicht gelöscht werde.

Gaby Weber: Auf dem Portal des Deutschlandradios wird man auf alternative Beteiligungsformate verwiesen, zum einen auf die sozialen Medien wie Facebook und Twitter, zum anderen auf eine Call-in-Sendung am Samstagvormittag zwischen 9 und 11 Uhr vormittags. Warum erscheinen Ihnen diese Alternativen als ungenügend?

Thomas Rudek: Die sozialen Medien sind schrift- bzw. textorientierte Medien, das Radio lebt und bezieht seine Wirkung jedoch durch das gesprochene Wort. Radiohörer legen darauf Wert, angesprochen zu werden. Die Stimme wirkt viel unmittelbarer, ist direkt an die Person gebunden. Wenn wir jetzt auf Facebook und Twitter umgeleitet werden sollen, dann ist das kein Ersatz für die stimmliche Präsenz. Und zu der Möglichkeit der Hörerbeteiligung am Samstag: Das ist ein ganz anderes Beteiligungsformat, denn dort sind in der Regel zwei Experten, die sich zu einem Thema äußern und außerdem auch noch ihre Musikwünsche vorstellen können. Zwischendurch können sich dann wenige Hörer mit einer Frage an die Experten wenden. Ein wirklicher Dialog kommt nicht zustande, zumal die Experten viel mehr Redezeit in Anspruch nehmen.

Werner Rügemer: Um noch einmal auf die Petition rettet2254.info zurück zu kommen. Welche Wirkung kann von der Petition ausgehen?

Thomas Rudek: Die Petition soll uns natürlich nicht nur zur Chefetage die Türe öffnen, sondern auch zu den Mitgliedern des Hörfunkrates wie den Abgeordneten und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Verbänden von Menschen mit Handicaps, denn gerade für seh- und gehbehinderte Menschen sind die Beteiligungsmöglichkeiten des Radios von entscheidender Bedeutung. So unterstützt uns beispielsweise die Humanistische Union, in dem sie uns ihre Berliner Geschäftsadresse zur Verfügung stellt. Menschen, die keinen Internet-Zugang haben, können die Petition handschriftlich unterzeichnen und dann zur Humanistischen Union nach Berlin schicken.

Werner Rügemer: Sie erwähnten selbst die beeindruckende Darstellung der Konsens-Fabrik von Noam Chomsky. Sind die Führungskräfte von heute nicht lernresistent gegenüber von Vorschlägen, die von der Bevölkerung an die Führungsetagen herangetragen werden?

Thomas Rudek: Natürlich läuft ohne Druck gar nichts und darum ist die Petition auch nur der Auftakt. Heutzutage tendieren Führungskräfte dazu, Proteste nicht ernst zu nehmen, und als „Shitstorm“ abzutun. Wir werden die Chefetage daran erinnern, dass sich auch das Deutschlandradio im Wettbewerb mit anderen Radiosendern behaupten muss. Gerade auf Landesebene gibt es eine Vielzahl von öffentlich-rechtlichen Sendern. Und ich bin überzeugt, dass auch die Chefetage des Deutschlandradios kein Interesse daran hat, dass wir beim NDR, SWR2 usw. dafür werben, dass hier Beteiligungsformate mit den Qualitätsmerkmalen der 2254-Nachtgespräche nicht nur eingeführt, sondern auch im Tagesprogramm verankert werden. Wenn – und davon sind wir überzeugt – unsere Ansprechpartner auf Landesebene erkennen, dass dieses Beteiligungsformat sich zum Erfolgsmodell entwickeln kann, dann hätte das zur Folge, dass das Deutschlandradio noch mehr Hörer verliert. Denn wie gesagt: Es geht darum, die Hörer aktiv zu beteiligen. Und wenn man die Hörer mit einer guten Kampagne erreicht, und mit Slogans wie „Wir haben ein Ohr für Sie“, oder: „Uns interessiert, was Sie zu sagen haben – jeden Tag!“ eine ansprechende Kampagne durchführt, dann ist diesen Sendern auf Landesebene der Erfolg mit absoluter Sicherheit garantiert, während das Deutschlandradio Hörer verlieren wird. Darüber hinaus überprüfen wir auch einen anderen Ansatz, um unserem Einfluss mehr Geltung zu verschaffen: Schließlich sind wir auch Gebührenzahler, wir finanzieren mit der GEZ zum größten Teil unsere Medienlandschaft. Da liegt es nahe, dass wir als Gebührenzahler in einen Streik treten, indem wir einen Teil der Gebühren einbehalten. Doch wie gesagt, das wird noch geprüft, ist aber möglicherweise auch eine Option. Jedenfalls sind viele Hörer nicht nur enttäuscht, sondern auch sehr wütend.

Gaby Weber: Gerade was die Wettbewerbssituation von Sendern betrifft, wird betont, dass man sich durch die veränderte Programmstruktur vom Deutschlandfunk abgrenzen will. So steht im Nachtprogramm des Deutschlandfunks die Wortnacht im Mittelpunkt. Sehen Sie vielleicht Spielräume, dass der Deutschlandfunk die Nachtgespräche übernehmen kann?

Thomas Rudek: Ich glaube nicht, dass die Moderatoren, die über Jahrzehnte diese Tätigkeit ausgeübt haben und  – wie soll ich sagen – den richtigen Ton im Umgang mit den doch sehr unterschiedlichen Anrufern gefunden haben, begeistert sein werden, zum Deutschlandfunk nach Köln wechseln zu müssen. Außerdem handelt es sich bei dem Hinweis von Herrn Heymendahl auf die Wortnacht um ein Scheinargument, denn die Wortnacht besteht zum größten Teil aus einer Wiederholung von Sendungen aus dem Tagesprogramm des Deutschlandfunks. Auch stehen diese Beiträge zusätzlich als Audiodateien zum Nachhören zur Verfügung. Nein, eine wirkliche Alternative ist das nicht..

Werner Rügemer: Sie erwähnten zu Beginn unseres Gesprächs den amerikanischen Medienkritiker Noam Chomsky und seinen sehenswerten Film „Die Konsensfabrik“. Glauben Sie wirklich, dass sich durch die Einbindung derartige Beteiligungsformate eine Demokratisierung der Medien erreichen lässt?

Thomas Rudek: Nun lässt sich die Kommerzialisierung der amerikanischen Radioszene mit der deutschen nicht vergleichen. Und ich bin einerseits sehr froh, dass wir ein öffentlich-rechtliches Rundfunksystem haben. Andererseits müssen wir gewiss mehr Demokratie in der Medienlandschaft einfordern. Das hat mir auch die mangelhafte Berichterstattung über den ersten erfolgreichen Berliner Volksentscheid zur Offenlegung der geheimen Wasserverträge gezeigt. Während wir vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen tabuisiert wurden – hier haben alte Seilschaften zwischen den Konzernen RWE, Veolia und der rbb-Abendschau im Sinne der Konsensfabrik von Chomsky bestens funktioniert – konnte ich auf sehr vielen öffentlichen wie privaten Radiosendern das Volksbegehren vorstellen und die Hörerinnen um ihre Unterstützung bitten. Auch in den Nachtgesprächen konnte ich mehrmals die Hörerinnen bitten, ihre Freunde und Bekannte in Berlin darüber zu informieren, dass wir in Berlin ein Volksbegehren gegen die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe gestartet haben.

Werner Rügemer: Sie sehen also in einer stärkeren Hörerbeteiligung eine Art „trojanisches Pferd“, um die elitäre Konsensfabrik von innen zu demokratisieren?

Thomas Rudek: (lacht) Das ist ein ausgezeichnetes Bild! Auf jeden Fall ist die Hörerbeteiligung im Radio mehr als nur ein Störfaktor in der Konsensfabrik der Medienlandschaft! Sie ist gelebte Beteiligungskultur. Und eines ist klar: Die Menschen wollen mitbestimmen, wollen mitreden, wollen gehört werden. Und wenn ich mir vergegenwärtige, dass mich auch Anrufer kontaktieren und am liebsten ein Volksbegehren starten wollen, dann ist mir dieser Ansatz so sympathisch, dass ich diese Idee gleich an unseren „Arbeitskreis unabhängiger Juristen“ weiter geleitet habe. Allein die Vorstellung, dass wir in mehreren Bundesländern zeitgleich ein identisches Volksbegehren für mehr Hörerbeteiligung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk starten, eröffnet ganz neue Perspektiven! Ich finde jedenfalls, dass dieser Vorschlag ein ungeheures Potenzial aufweist!

Das Archiv der Nachtgespräche finden Interessierte hoffentlich unter diesem LINK.

Handschriftlich unterschrieben Petitionsbögen bitte an folgende Adresse schicken:

Humanistische Union
Stichwort „rettet2254“
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4
10405 Berlin
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