Auch Mindestlöhner müssen wohnen – Anmerkungen zur Mindestlohn-Debatte bei Anne Will vom 23.10.2013

Auch Mindestlöhner müssen wohnen – Anmerkungen zur Mindestlohn-Debatte bei Anne Will vom 23.10.2013

Von Thomas Rudek


Mindestlohn statt Hungerlohn – Sorgt die Große Koalition für bessere Jobs? Dieses Thema diskutierte Anne Will am 23.10.2013 mit Julia Klöckner (CDU), Olaf Scholz (SPD), Michael Hüther (Institut der deutschen Wirtschaft / INSM), Stefan Sell (Arbeitsmarktforscher) und dem Hotelbetreiber Jonny Sauerwein.

Polit-Talks erscheinen vor allem deshalb sehenswert, weil sie den Zuschauern einen Einblick in die psychologische Verfassung so genannter Leistungsträger bzw. Führungskräfte vermitteln. Wie ticken diese Personen? Welches Menschenbild liegt ihren Äußerungen zugrunde? Und können aus diesem kurzem „Blick unter die Schädeldecke“ möglicherweise Schluss­folgerungen abgeleitet werden, was zu­künftig noch zu erwarten ist bzw. ins Haus steht? Doch abgesehen von den Möglichleiten solcher „Profiling“-Ansätze von Führungskräften liefert auch das Gesamt­arrange­ment einer jeden Talk-Show Anhaltspunkte zum Verständnis für das, was als politische Kultur zu verstehen ist. Spricht es beispielsweise für eine kontroverse Streitkultur, wenn Anne Will sich einerseits für Michael Hüther, den Geschäftsführer des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft und einen vehementen Gegner des Mindestlohns entscheidet und als „Antipoden“ keinen anderen findet, als den Hartz IV Befürworter Olaf Scholz von der SPD?  Auch die Frage, ob das Schwerpunktthema in seiner Komplexität angemessen erörtert wird, zeigt, ob unsere politische Kultur als geist­reich zu klassifizieren ist oder die Auslassungen und Ausblendungen relevanter Aspekte doch eher für das Gegenteil stehen?

Es war allerdings weniger das altbeschworene Gespenst vom Arbeitsplätze vernichtenden Mindestlohn, das die Zuschauer überraschte, als die Frage, ob die 80%ige Zustimmung zum Mindestlohn in der Bevölkerung auch noch Bestand hätte, wenn der Mindest­lohn zu höheren Preisen führen würde: Der Mindestlohn nicht als Jobvernichtungsmaschine sondern als Inflationsmaschine – das ist neu. Den Einwand, dass die Menschen von ihrer Arbeit auch leben müssten oder – um es deutlicher zu formulieren – auch so viel verdienen müssten, dass nach Mieterhöhungen und Inflationsrate auch noch etwas zum Leben bleibt – wischte Hüther lapidar mit dem Hinweis auf die “Haushaltszusammen­hänge”, auf das “Verant­wortungs­ge­flecht der Familie” vom Tisch (O-Ton Hüther). Äußerst makaber sind die unterschwelligen Andeutungen, mit denen Hüther sein neoliberales, menschenverachtendes Konzept dadurch zu rechtfertigen versucht, dass erst ein Hartz IV kompatibler Mindestlohn von 6 € eine wirkliche “Aufstiegs­chance” bietet (O-Ton Hüther). “Wenn sie einge­stiegen sind, dann aufzu­steigen…” Übersetzt: Wenn 6,00 € als Einstieg ausreichen, dann soll man sich freuen, wenn man am Ende seines Arbeitslebens im Niedriglohnsektor immerhin einen Bruttolohn von 8,50 € zugebilligt bekommt. Dabei ist an dieser Stelle festzuhalten und klarzustellen: Wer für einen Stunden­lohn von 8,50 € arbeitet, verfügt über ein monatliches Bruttoeinkommen von 1.300 € – unter den Bedingungen einer 40-Stunden-Woche! Ein solcher Bruttolohn schützt weder vor Altersarmut, noch eröffnet er Spielräume für eine kapitalgedeckte Altersvorsorge, sondern führt unweigerlich in die Grundsicherung und damit in die Altersarmut. Und wer in diesem Zusammenhang geistesgegenwärtig an die gestiegenen Energiekosten denken sollte, der sollte sich an die Folgekosten dieser Selektionspolitik erinnern: Wenn sich viele der älteren Menschen nicht mehr leisten können, ihre schlecht isolierten (Billig)Wohnungen zu heizen, dann wurde in Großbritannien deutlich, wie schnell aus einer Erkältung eine tödlich verlaufende Lungenentzündung wird. Im Winter 2003 gab es dort 30.000 Kältetote. In Deutschland werden diese Daten nicht nur unter Verschluss gehalten. Von Kältetoten ist hier “nur” die Rede, wenn ein Obdachloser erfroren ist.[1]

zu den dubiosen Rechenkünsten v. JS
Doch überzeugen Sie sich bitte selbst, indem Sie dem O-Ton von Herrn Sauerwein für nicht einmal 2 Minuten Gehör schenken.

Für die eigentliche Überraschung sorgte schließlich der Hotelbetreiber Jonny Sauerwein, der in aller Deutlichkeit herausstellte, dass für sein Unternehmen ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 € existenzgefährdend sei. Gleichzeitig überraschte Sauerwein mit seiner Antwort auf die Frage von Anne Will, wie hoch denn sein persönlicher Stundenlohn ausfällt: Laut Steuerbescheid kommt Sauerwein auf 10 €, real “in richtigem, echten Geld sind es 56 Cent”, da er als Unternehmer ja nicht nur zahlreiche Beschaffungskosten wie die Kosten für die GEZ und die Einkaufstouren seiner Frau von seinem Stundenlohn ab­setzten muss. So schließt sich der Kreis zum “Verant­wortungs­geflecht der Familie” (Hüther). Ein kurz flackerndes Licht in das Dunkel der Rechenkünste von Johny Sauerwein verdanken wir der Einblendung eines Untertitels, aus dem ersichtlich wird, wo die Reise hin geht: Damit Jonny Sauerwein seinen Schnitt macht und nicht in der Armutsfalle landet, rackert er bis zu 80 Stunden in der Woche. Jedenfalls wird diese Botschaft durch eine Einblendung vermittelt. Übersetzen wir diese Botschaft auf das Problem von Menschen, die mit dem zukünftigen Mindestlohn nicht auskommen, dann scheint die Überwindung der 40-Stunden-Woche eine Option zu sein, die von neoliberalen Kräften ernsthaft erwogen wird. Doch über die wöchentliche Arbeitszeit wurde bei Anne Will bedauerlicherweise genauso wenig diskutiert wie über die familiären Einkommensverhältnisse von Herrn Hüther. Schade, denn erst wenn es gelingt, die Entwicklungen oberer Einkommensbezieher mit der Entwicklung prekär Beschäftigter zu koppeln, haben wir eine Grundlage, der wachsenden sozialen Kluft zwischen Reich und Arm entgegenzuwirken. Doch

statt in größeren Zusammenhängen zu denken, werden die Aufstiegschancen von Tage- und Niedriglöhnern dahingehend „optimiert“, indem sich die Verantwortlichen darauf konzentrieren, dass Flaschenpfand so zu erhöhen, dass sich die Einnahmen der Flaschensammler „sogar“ verdoppeln. Was für eine armseelige Perspektive, in Aussicht gestellt von Führungskräften, die sich selbst mit diesen Überlegungen als Soziopathen zu erkennen geben!

Links bei dradio.de:


[1] Historisch betrachtet, erscheint die Individualisierung des Massenmords eine Zielvorgabe neoliberaler Optimierungsstrategien, die auch volkswirtschaftlich im Sinne von Michael  Hüther zur Entlastung des Staatshaushalts einen wichtigen Beitrag leistet: Keine Lager, kein Personal, obwohl der Entsorgungsaufwand…

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